Ab 1911 leitete Korczak das nach seinen Plänen errichtete Waisenhaus Dom Sierot. Hier entwickelte er aus der reflektierten Praxis heraus seine Vorstellungen von Erziehung als einer Utopie von einer friedfertigen, klassenlosen Gesellschaft. Denn für Korczak war die Welt bisher eingeteilt in zwei Klassen : in Erwachsen und Kinder. Zwischen beiden herrschte ein Kampf - allerdings ein Kampf von Ungleichen, denn die Kinder waren in diesem Kampf hoffnungslos unterlegen. Das gemeinsame gesellschaftliche Los der Kleinen ist die Kindheit, die Korczak ihnen und den Erwachsenen bewusst machen will. Hier beginnt der grosse wichtige Klassenkampf der Menschheit. Denn bis in Korczaks Zeit hinein war das Kind nur der Noch-nicht-Erwachsene, ein artig dressierter, willen- und rechtloser, erst in der Zukunft ernst zu nehmender Mensch, ein Projektionsobjekt von Eltern für im eigenen Leben nicht Erreichtes. Wir Erwachsenen, schreibt Korczak sinngemäss, haben uns so eingerichtet, dass die Kinder uns möglichst wenig stören, möglichst wenig ahnen, wer wir eigentlich sind. So verweigern wir uns. Zugleich kennen wir natürlich den Weg zum Glück. Wir geben Hinweise und Ratschläge, wir lenken und korrigieren, das Kind tut nichts, wir tun alles. Wir befehlen und verlangen Gehorsam. Es sind ja unsere Kinder, unser Eigentum. Gibt es in der Geschichte wohl ein Beispiel für ähnliche Tyrannei? Neben der Leitung des Kinderhauses Dom Sierot und eines weiteren, Nasz Dom, ist Korczak unentwegt damit beschäftigt, seine Erfahrungen zu durchdenken, seine Erziehungsentwürfe zu konkretisieren und mit allen Kräften für die Verbesserung des Loses der Kinder der Strassen zu arbeiten. In seinen beiden Kinderbüchern von König Hänschen - genauer - Krol Macius - z.B. beschreibt Korczak, wie Kinder als Sachkenner in Angelegenheiten von Kindern ihre Welt ordnen und wie Erwachsene ihnen dabei helfen können. In
den pädagogischen Hauptbüchern "Wie man ein Kind lieben
soll" und "Das Recht des Kindes auf Achtung" unterbreitet
er seine durch Erfahrung und liebenden Einsatz gewonnenen Einsichten für
eine bessere Erziehung. Dabei handelt es sich nicht um ein geschlossenes
Theoriegebäude mit ableitbaren Handlungsanweisungen. Seine Pädagogik
ist vielmehr ein Appell an Erwachsene, ihre Haltung dem Kind gegenüber
zu überprüfen und sich selbst zu ändern. Im Dom Sierot realisiert er seine Vorstellungen von einer demokratischen Kinderrepublik. Da gibt es ein Parlament, ein Kindergericht, eine Kinderzeitung und viele andere "Institutionen", mit denen und in denen Kinder und Erzieher lernen können, so miteinander zu leben, daß die eine Gruppe nicht die andere unterdrückt oder dominiert. Ausser Heimleiter, Arzt und Literat war Janusz Korczak Mitarbeiter beim polnischen Rundfunk, Leiter einer Versuchsschule, Herausgeber einer Kinderzeitung und Redner an polnischen Hochschulen. Nach Kriegsausbruch 1939 zog der seine polnische Offiziersuniform wieder an, die er schon als Militärarzt getragen hatte, und demonstrierte auf diese Weise seine Loyalität mit dem angegriffenen polnischen Volk. Als das Ghetto errichtet wurde, musste das jüdische Waisenhaus ebenfalls in ein Haus innerhalb der Ghetto-Mauern ziehen. Dort lebten Korczak und die Kinder unter unsäglichen Bedingungen bis die Nazis am 22. Juli 1942 mit der Massentötung der Bevölkerung des Warschauer Ghettos durch die "Umsiedlung" nach Treblinka begannen. Am Mittwoch, dem 5. August 1942, war das bisher verschont gebliebene Waisenhaus Korczaks an der Reihe. Dr. Korczak selbst hatte wiederholt die Möglichkeit gehabt, sein Leben zu retten, aber alle diesbezüglichen Vorschläge lehnte er entrüstet ab. Er hätte eine solche Tat als Verrat an den Kindern und an seiner Aufgabe betrachtet. Bearbeiteter Auszug aus: Friedhelm Beiner: Janusz Korczak. Ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik? |